Da ist z.B. Ketlen, 17 Jahre alt. Ketlen trifft sich morgens mit der Psychologin Deborah am Bahnhofsausgang des nächstgelegenen Regionalbahnhofs, zu dem sie alleine gelangen muss. Sie bekommt diese Unterstützung bei ihrem Gang in den Berufsalltag. Die große Nervosität vor einem Vorstellungsgespräch für einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz, gegebenenfalls Begleitung durch die Mutter oder eine Freundin etc. – soweit alles normal. Nur: dass Ketlen einen schweren Weg hinter sich hat und wohl noch für ein Jahr diese Unterstützung in Anspruch nehmen darf, bevor sie, mit dem Erreichen der Volljährigkeit den Schutzraum der Casa wird verlassen müssen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Eine weitere Besonderheit an und für Ketlen ist, dass sie in schwierigen Situationen oft die Kontrolle über ihre Angst, ihre Nervosität – und auch ihren Körper verliert: Wenn es unbequem wird, reagiert Ketlens Körper mit epileptischen Anfällen. Ob ihr Körper sich das zum Schutz ihrer Seele ausgedacht hat? Und wie viel Kraft ist für so eine junge Frau wohl nötig, um das in den Griff zu bekommen und ein „normales“ Leben zu führen?
Oder Jennifer, 12 Jahre alt, die immer wieder aus der Casa abhaut und dann unauffindbar ist. Ihre Geschichte, durchzogen von Gewalt, Vertrauensbrüchen und Missbrauch, hat sie dazu veranlasst, ihre ganz eigenen Grenzen - und die ihres Körpers - aufzustellen. Sie ist eine starke, impulsive, wilde Persönlichkeit – und gleichzeitig ungreifbar, weil etwas mit ihrer Seele passiert ist, auf das von außen nur sehr schwer Zugriff zu bekommen ist. Die vergitterten Fenster und das große verschlossene Tor, zu dem nur die diensthabenden Erzieherinnen und Erzieher einen Schlüssel haben – sie bekommen auf einmal eine ganz andere Facette: nämlich etwas Beschützendes. Die Kinder davor zu schützen, sich in dieser Welt da draußen „zu frei“ zu bewegen. Oder um zu vermeiden, dass von draußen etwas oder jemand hineinkommt, vor dem man sie auf diese – vergitterte, abgeschlossene – Weise zu schützen versucht.
Die große Aufregung: das Wochenende
Einer der grundlegenden Ansätze der Casa Taiguara-Projekte ist es, die Kinder nicht nur weg von Straße, Drogen und unerträglichen Lebensumständen an einen sicheren Ort zu bringen. Von Beginn an wird an dem Ziel gearbeitet, auch die Eltern in den Prozess der gesellschaftlichen Wiedereingliederung mit einzubinden. Und auch deren Vergangenheit und Probleme: es ist der Versuch, die Spirale zu stoppen. Wie wichtig das ist, zeigt die Aufregung, die sich in der Casa in den Tagen vor und nach dem Wochenende ausbreitet, an dem viele Kinder „nach Hause zu Eltern oder Verwandten fahren dürfen. Vorausgesetzt, es gibt jemanden, der sie sehen möchte – denn das ist leider nicht bei allen der Fall:
Von Donnerstag mittags bis Montag oder auch Dienstag ist spürbar, wie sehr die Kinder mit dem Herzen an die Eltern (oder andere Verwandte, wenn die Eltern nicht „können“ gebunden sind. Der Wunsch nach Geborgenheit, Schutz und Angenommen sein wird dann so spürbar und lebendig und endet doch so oft in Traurigkeit, Schmerz, Abschied oder Enttäuschung bei Absagen. Der Weg in die Familien zurück ist lang und beschwerlich – aber er ist machbar! Vor kurzem sind die beiden Schwestern Larissa (17) und Paula (14) nach regelmäßigen Besuchen bei ihrer Mutter nun wieder ganz bei ihr eingezogen.
Und dann waren da noch ...
Impulse, Impulse, Impulse – und jede Menge Spaß! Ich versuchte nach meiner Rückkehr aus Brasilien einen Erfahrungsbericht über meine Erlebnisse in der Casa das Expedicões zu schreiben und merkte beim (Be-)schreiben des Erlebten, wie viel ich die Menschen in der Casa das Expedicões tatsächlich er-LEBT habe. Wie mich der Aufenthalt in all seinen Facetten berührt hat und mit Achtung und Bewunderung füllt, für all die Menschen, die Teil der Casa Taiguara sind. Die Idee, die Vision, die Hingabe, mit der für die Kinder gekämpft wird. Da gibt es sehr viel Ernstes und Nachdenkliches zu erzählen – und darüber ist in den Hintergrund getreten, wie viel lustige, schöne und witzige Momente wir zusammen erlebt haben.
Drachensteigen ist ein großer Sport in Brasilien. Der „pädagogische Auftrag“, den wir uns für die Aktion auferlegt hatten – jeder schreibt einen Traum auf seinen Drachen, bevor er ihn in den Himmel aufsteigen lässt – passierte nicht ganz freiwillig: „Erst einen Traum draufschreiben, vorher gibt‘s keine Schnur!“ Aber er wurde in die Tat umgesetzt. Auch wenn zwischendurch das Gefühl aufkam, dass dieses pädagogische Aufladen ein bisschen erzwungen war - am Ende war es doch berührend, was an Wünschen so in den Himmel geschickt wurde: „Cachorro (Hund) war dabei, „amor“ (Liebe), ganz konkret und wunderschön „uma casa na praia. Uma loja de pipas“ („Ein Haus am Strand. Ein Geschäft für Drachenzubehör“). Und dann noch „mãe e pai“ (Mutter und Vater). Das ist einer der Momente, wo man dann kurz gehörig aufpassen muss, dass man keine feuchten Augen vor den Kindern bekommt. Und dann ab damit in den Himmel, lasst sie fliegen, eure Träume, das können Träume nämlich lernen: fliegen.
Vielleicht ist es mir während meines kurzen Aufenthalts in der Casa das Expedicões gelungen, ein Fünkchen, einen Samenkorn oder eine schöne Erinnerung zu hinterlassen. Das wäre schön. Und falls doch nicht, dann habe ich eine Menge Funken und Erinnerungen für meine Lebensschatzkiste dort geschenkt bekommen!
An dieser Stelle möchte ich gerne allen, die vor, während und nach meinem Aufenthalt in São Paulo in der Casa Taiguara beteiligt waren, von Herzen für dieses Erlebnis danken. Und wünsche allen viel Mut, Kraft und Ausdauer für die Fortführung der „Casa Taiguara“ und Glück, Zuversicht und Vision für die Wege, die alle, die daran beteiligt sind, gehen werden.
Ich wünsche ihnen dazu auch: Geld – und das geht an Sie und Euch, die Leser dieses Textes! Da die öffentlich bereitgestellten Mittel nicht ausreichen, das Projekt am Laufen zu halten, sind alle Beteiligten dringend auf finanzielle Mittel von außerhalb angewiesen. Jeder Euro hilft, das Zuhause, den Schutzraum, diesen „Nährboden fürs Leben“, den das Projekt Casa Taiguara erschaffen hat, zu erhalten. Ich bedanke mich dafür bereits im Voraus im Namen all der wunderbaren, großen und kleinen Menschen des Projekts Casa Taiguara, die ich kennenlernen durfte.
brasilieninitiative f r e i b u r g e.V.
IBAN: DE88 6809 0000 0025 054806
BIC: GENODE61FR1
Zur Autorin: Pina Uhse (40) ist Grafikerin aus Köln. 2016 erfüllte sie sich einen lang gehegten Traum, kündigte ihren Job und reiste für drei Monate durch Brasilien. Erste Station der Reise war ein vierwöchiges Praktikum in der Casa das Expedicões.